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Ein kleines Pappkästchen, mit Briefen, den Orden, ein paar Fotos… Zum aktuellen Familienroman als erinnernder Rekonstruktion

Michaela Holdenried

Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

1.   Familienromane - Generationenromane - Teleskopage

IST der Familienroman noch zeitgemäß? » hat Sigrid Löffler sich 2005 in ihrer Zeitschrift Literaturen gefragt [1] und apodiktisch festgestellt, dass sich nach Heimito von DoderersDie Merowinger oder Die totale Familie (1962) « ernsthaft kein Generationenroman mehr schreiben [lasse]. » [2] Die Antwort liefert sie angesichts der Schwemme auf dem Buchmarkt gleich mit: « Offenbar jeder. » [3] Und auch wenn es ihr nicht gefällt, muss sie doch eingestehen, dass der Familienroman – die Gattungen werden von ihr nicht so säuberlich geschieden – trotz seines traditionellen Formats (oder gerade deshalb?) in immer neuen Varianten narrativ wiederbelebt werden kann. Denn im Familienroman lassen sich alle aktuellen gesellschaftlichen Themen abhandeln, was übrigens auch das filmisch analoge Genre, der Familienfilm, aufs Schönste beweist. Als besonders auffällige Tendenzen hält Löffler fest, dass der Familienroman sich « orientalisiere » [4]. Moderne Familienromane seien aber auch oft « Epochen-Endzeitgeschichten » [5] im morbiden Familientableau (John von Düffel: Houwelandt [2004], Sibylle Mulot: Die Fabrikanten [2005]) – was nicht von ungefähr an die Buddenbrooks erinnere, aber genau deshalb auch so überlebt sei. Schließlich würden die großen geschichtlichen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts in den Romanen widergespiegelt. Den Versuch, das Familiäre mit dem Gesellschaftlichen und Historischen zu verbinden, sieht Löffler nur bei wenigen Romanen als gelungen an, etwa in Arno Geigers Es geht uns gut (2005), einer Wiener Drei-Generationen­-Geschichte, in der ein Enkel gerade nicht die Recherche antreten, sondern das Familienerbe auslöschen will – womit Geiger nicht von ungefähr an die spätestens seit Thomas Bernhard « typisch österreichische » Genretradition des « Auslöschungs­romans » anschließt.

Statt der von Löffler postulierten Überlebtheit der Gattung kann man meines Erachtens beobachten, dass sich auch im Falle des Familienromans genau das bewahrheitet, was für alle Gattungen gilt, die so oft totgesagt wurden: Sie wandeln sich, nehmen neue Stoffe auf, und dehnen damit die Gattungsgrenzen, definieren die Variablen neu, ohne die unabhängige Konstante anzugreifen. Diese heißt nach wie vor Familie, in ihrer retrospektiv erinnerten Form, in ihrer ganzen Brüchigkeit, im Status ihrer absoluten oder relativen Auflösung begriffen. Zunächst ist deshalb auch nach der adäquaten Gattungsterminologie zu fragen, die direkt mit einer diachronen Abfolge zusammenhängt, wie Aleida Assmann es auf den Punkt gebracht hat [6]: Im Familienroman gehe es nicht um ein duales Generationen-Modell – wie in der Väter-Söhne/Väter-Töchter- und seltener der Mütter-Töchter-Literatur – und den Generationenkonflikt, sondern « die erzählte Zeit [weitet sich] zu einer drei (und mehrere) Generationen umspannenden Retrospektive. » [7] Eingebürgert hat es sich, die Väter-Literatur der 1970er und 1980er Jahre von dem neueren Modell desjenigen Familienromans zu unterscheiden, in dem « die existentielle Verschränkung von Individuum, Familiengeschichte und nationaler Geschichte […] ein wichtiges Strukturmerkmal » [8] bildet. Der postmoderne Familienroman ist daher eine zeitspezifische Ausprägung des Generationenromans, in dem die Auseinandersetzung mit der nationalen Vergangenheit und insbesondere mit dem « Zivilisationsbruch » im Kosmos der Familie das erzählerische Zentrum bildet.

Mit dem neueren Familien- als Generationenroman sind bestimmte theoretische Konzepte verbunden, die in den literarischen Beispielen deutlicher werden sollen: Dazu zählt das Modell der genealogischen Kette, wie es Schiller formuliert hat, dem ein kulturstiftendes Moment innewohnt, weil es die Unvergänglichkeit von (kulturellen) Werten in einem überindividuellen Kontinuum garantiert. Karl Mannheim hat in einem berühmt gewordenen Aufsatz von 1928, Das Problem der Generationen, diversifiziert, indem er statt der diachronen Kettenfolge die synchrone Ebene der in einer « Generationskohorte » durch « Generationserlebnisse » verbundenen Generationsmitglieder stärker in den Blick rückte. [9] Den Generationenroman der Gegenwart, so kann man thetisch festhalten, charakterisiert der Rückgriff auf das diachrone Kettenmodell, mit einer zugleich starken Betonung des verbindenden Generationenerlebnisses. Während im bipolaren Generationenroman dieses Erlebnis die Form der Hinterfragung, Anklage und Bewältigung der durch die Vätergeneration begangenen Verbrechen angenommen hatte, [10] damit aber die Generationen durch einen Bruch voneinander abgegrenzt wurden, stellt der neuere « Familienroman das Problem der Kontinuität in Gestalt langfristiger Verstrickungen, Übertragungen und Verschränkungen » [11] in den Vordergrund. Damit ist aber eine veränderte Haltung der oft als autobiographisch identifizierbaren Protagonisten verbunden: An die Stelle der Abgrenzung tritt die eher durch eine grundsätzliche Empathie getragene Suche nach Motiven, Erklärungen und Sichtweisen der Verstrickungen in die Vergangenheit speziell des Nationalsozialismus. Martin Hielscher hat eine sehr positive Deutung dieser anderen Haltung vorgelegt, die er gerade nicht als Apologetik verstehen will, sondern als Ausfluss einer neuen « Erinnerungskultur » [12], wie sie nur auf dem Boden einer demokratisch gefestigten Gesellschaft entstehen könne. Es handle sich nicht um Rechtfertigung, sondern um eine Form des Erzählens, die « gerade nicht das auf Zustimmung, Geschlossenheit und Aussparen angelegte rituelle Erzählen am Familientisch » [13] imitiere, sondern dieses höchstens zitiere, unterbreche, erweitere und umwende: « Auf der Rückseite erscheint das Ungesagte, Verschwiegene, durch Lüge und Verdrängen Vergessengemachte. » [14] Wenn also in Hielschers Logik «  [d]ie Verneinung der erzählenden Literatur […] die Verneinung der Geschichte und damit der Frage nach Opfern und Tätern » [15] ist, so liegt gerade im « neuen Hybrid » [16] Familienroman eine begründete Möglichkeit der « Rückeroberung einer erzählenden Literatur » [17]. Damit es zu dieser kommen kann, müssen aber die psychopathologisierend wirkenden Elemente der Familienkonstellation erzählerisch sichtbar gemacht, und nicht – wie häufig in der Väterliteratur – durch projektive Abwehr abgespalten werden. Zu Recht weist Assmann darauf hin, dass das Bild der Teleskopage, wie es sich für « den Mechanismus der transgenerationellen Übertragung eines Traumas » [18] eingebürgert hat, auf jegliche vom Trauma des Holocaust affizierte Erinnerungsliteratur anwendbar ist, auch wenn die Gedächtnisse der Täter/Mitläufer und ihrer Nachfahren selbstredend anders funktionieren, wie Dan Diner betont: Die Kinder der Holocaust-Überlebenden sind traumatisiert durch das, was die Eltern gesehen haben, während die Nachfahren der « Tätergeneration von dem traumatisiert seien, was die Eltern nicht gesehen haben (wollen) und verdrängt haben. » [19] Es geht hier also keineswegs um den Versuch einer Nivellierung traumatischer Erfahrungen, sondern darum, auf einen gemeinsamen Mechanismus hinzuweisen: Die ineinander verschobenen Leben der Eltern und der Kinder haben Auswirkungen auf alle Nachfahren, in graduellen Abstufungen des Traumas oder anderer psychodeformativer Prägungen.

Der Versuch der « Integration des eigenen Ich in einen Familien- und Geschichtszusammenhang » [20] statt der selbstzerstörerischen Abwehr der Schuld der Väter ist der gemeinsame Impuls von zwei Familienromanen, die im Folgenden vorgestellt werden.

2. Exemplarische Lektüre: Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders (2003)

Der Titel, den Timm für seine autobiographische Annäherung gewählt hat, trifft den Kern der neueren Versuche, sich schreibend an eine Vergangenheit heranzutasten, die psychologische Teleskopage-Effekte auf die nachfolgende Generation und deren Verhältnis zu der Eltern-/Tätergeneration gezeitigt hat, aber durch das Schweigen innerhalb der Familie nicht bearbeitet werden konnte. Am Anfang seiner Explorationen erklärt Timm, warum erst die Mutter und die Schwester gestorben sein mussten, bevor er frei gewesen sei, über den seine Kindheit und vielleicht sein ganzes Leben bestimmenden Bruder zu schreiben, und rücksichtslos, gegen die eigenen Skrupel und Ängste, die richtigen Fragen zu stellen.

Mit 18 Jahren hatte sich der Bruder freiwillig zur SS-Totenkopfdivison gemeldet und war ein Jahr später nach einer doppelten Beinamputation in Russland gestorben. Dieser Karl-Heinz Timm war der Lieblingssohn des Vaters, Stammhalter und Kamerad (so unterzeichnete der Sohn seine Feldpost an den Vater). Dass über den Bruder schreiben auch heißt, über den Vater, die Familie, sich selbst zu schreiben, und zwar ohne die familiären Tabus, ohne die Familienlegenden vom « tapferen Jungen » und ohne davor zurückzuschrecken, dass man bei der Spurensuche auf monströse Funde stoßen könnte, war Uwe Timm klar.

Für den erprobten Autor, der mit Techniken der Montage bestens umzugehen weiß, ist das historisierende, Fakt und Fiktion vermischende Umgehen mit Vergangenheit aber in dem Fall, in dem es um die eigene Familie geht, von größter Bedeutung für den Prozess einer Rekonstitution des eigenen Ich: « Sich ihnen schreibend anzunähern, ist der Versuch, das bloß Behaltene in Erinnerung aufzulösen, sich neu zu finden. » (18) [21] Und das meint auch, bei aller angestrebten Exemplarität – Am Beispiel meines Bruders –, das eigene Psychogramm aus der Familiengeschichte herauszukondensieren. Die Toten solle man ruhen lassen, mit diesem Satz hätte seine Mutter seine Pläne durchkreuzt, doch lassen die Toten einen ja nicht in Ruhe – aus diesem Impuls heraus, die übermächtige Präsenz des Bruders literarisch aufzulösen, indem seine Hinterlassenschaften geordnet werden, hat Timm geschrieben: « Abwesend und doch anwesend hat er mich durch meine Kindheit begleitet […]. Auch wenn nicht von ihm die Rede war, war er doch gegenwärtig, gegenwärtiger als andere Tote, durch Erzählungen, Fotos und in den Vergleichen des Vaters, die mich, den Nachkömmling einbezogen. » (8)

Der Vater steht denn auch in diesem Familienpanorama, das die Vorfahren zumindest am Rande einbezieht, im Vordergrund. Wünsche sind ein Leitmotiv des Buches (verbunden mit dem familienromantypischen Topos des ungleichen Brüderpaares, vgl. die Buddenbrooks); der ältere Bruder verwirklicht die Wünsche des Vaters (104), und der auf sein Leben zurückblickende Autor erkennt, dass es ihm selbst, anders als seinem Bruder, möglich wurde, eine eigene Wunschstruktur zu entwickeln. [22] Die Geschichte des Vaters, der das Wirtschaftswunder nicht für sich zu nutzen weiß, dessen Wechsel platzen, der gegenüber dem jüngeren Sohn seine patriarchalische Position einbüßt, Autoritäts- und ökonomischen Verlust nicht verkraftet, dem Alkohol verfällt und schließlich mit Ende 50 stirbt, erinnert an eine andere Abstiegsgeschichte: diejenige Thomas Buddenbrooks. Die Diskrepanz zwischen Wunschstruktur und Wirklichkeit auszutarieren, gelingt ihm tragischerweise nur in einer kurzen Zeitspanne seines Lebens; Timm beziffert sie fast buchhalterisch genau: « Es war die Zeit – drei, höchstens vier Jahre –, in der er derjenige war, der zu sein er sich wünschte. » (135)

Auf diesen an seiner Schwäche zugrunde gehenden Vater, dessen Lauheit ihm der nachgeborene Sohn noch Jahrzehnte nach seinem Tod vorwirft, muss die gewaltsam abgebrochene Biographie des Bruders rückbezogen werden: Er war der « tapfere Junge », einer, der nie klagte, verschlossen war, dennoch vom Vater geliebt wurde. Dass er sich freiwillig zur SS-Totenkopfdivision gemeldet hat, ist auf der Folie des gezeichneten Porträts zunächst nicht verständlich; der Junge, der aus dem familiären Kontext verschwindet, indem er sich in Verstecke zurückzieht, kein Rabauke, eher still – ein ganz normaler junger Mann –, einer von denjenigen, von denen der Autor bei seinen Recherchen zu einer Mentalitätsgeschichte des Holocaust bei Christoper R. Browning lesen wird: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die "Endlösu" in Polen (1993) (100). Es ist genau jene beunruhigende Normalität, der Timm in der eigenen Familiengeschichte nachspürt und die seinen Bruder zu einem Beispielfall macht. Nichts deutet auf eine Anlage zur Gewalt hin, und doch wird sie in den Eintragungen im Kriegstagebuch unübersehbar deutlich: « 75m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG. » (33) Genauso beiläufig werden aber auch die eigenen Verluste notiert, karg, unkommentiert. Nach der Rückeroberung Charkows auf dem Rückzug begriffen, werden gefallene Kameraden erwähnt, dann heißt es lakonisch: « [E]s geht nicht wir müssen zurück [sic]. Nachts prima ausgeschlafen. » (94) An einem der Kürschnergesellen des Vaters wird diese unerklärliche Brutalität des Normalen (oder in Hannah Arendts Worten: die Banalität des Bösen) in einer Szene geschildert, die dieser, ein freundlich-unauffälliger Mann, dem Lehrling Timm erzählt – wie er zwei Russen « auf der Flucht » erschießt (126f).

Natürlich ist diese Szene indirekt auf den Bruder rückzubeziehen, in dessen Tagebuch der Autor zwar keine ausdrücklichen Urteile über die « Untermenschen », über Juden und Russen findet, aber auch sonst keine Gefühlsregungen. Und wo in den Briefen an den Vater ausführlicher zur Sprache kommen könnte, was ihn beschäftigt, existieren nur Leerstellen, kein klareres Bild. Das Tagebuch ist wenig aussagekräftig, voller Abkürzungen, nur einzelne Sätze lassen aufhorchen, insbesondere der Satz, mit dem der Bruder es beendet – und mit dem auch die Spurensuche Timms endet: « Hiermit schließe ich mein Tagebuch, da ich für unsinnig halte [sic ], über so grausame Dinge, wie sie manchmal geschehen, Buch zu führen. » (155) Diesen Satz wendet Timm mehrfach hin und her, eine eindeutige Lesart findet er nicht.

Obgleich ihn der Bruder umgetrieben hat, dessen Leben auf so intrikate Weise mit dem eigenen verbunden war, hat sich der Autor lange gescheut, ein Leben zu rekonstruieren, von dem die Hinterlassenschaften des Bruders – von der Mutter aufbewahrt in einer Schublade – so wenig verraten, und von dem nur die dürre Familienlegende vom « tapferen Jungen » geblieben ist, neben wenigen Fotos und Briefen (und eben dem Tagebuch). Dass Timm eine « Sprache der Nähe » [23], nicht der Abgrenzung, wählt, wird in dem szenisch ausgeführten Anfangsbild vom heimkehrenden Bruder, der den Kleinen hochwirft, überdeutlich: Die Freude, das Erhobensein, eine körperliche Einschreibung des Bruders in das Wissen von sich selbst, dieses starke Bild einer liebevollen Nähe überstrahlt die ganze Spurensuche.

Was Timm versucht hat, ist, der « festgeschriebene [n] Erinnerung » (33) – den Medaillons, von denen auch Christa Wolf spricht, die verkarstet und versteinert sind [24] – eine andere Ebene des Eingedenkens abzuringen, das Familiennarrativ zu erweitern, ja überhaupt erst erzählbar zu machen. Darin haben auch die Mutter und die Schwester ihren Platz, den sie strukturell in der durch die Männerdyade bestimmten Familie nicht hatten – die Schwester wird von beiden Männern ignoriert, die Mutter ist einzig auf den Vater bezogen. Den Krieg nehmen die Frauen eher von außen wahr, sie hüten die Erinnerung, bewahren das Familiengedächtnis, aber ihre Position ist eine externe. (Das wird auch bei Friedrich Christian Delius klar werden: Der Krieg zeigt sich der Mutter in der Gestalt der zunehmenden, aber immer kleiner werdenden Todesanzeigen). Dass die weiblichen und männlichen Sphären so strikt getrennt waren, stellt für den 68er Timm auch einen Erklärungsansatz für die unselige Familiendynamik dar – der autoritäre Charakter, die Verpanzerung des keine Gefühle zeigenden Mannes, die Abspaltung weiblicher Anteile sind Mosaiksteine der gesamtgesellschaftlich ausstrahlenden, nicht nur innerfamiliären Brutalisierung.

Timm gelingt es, auf der schmalen Überlieferungsbasis ein überzeugendes Bild seines Bruders zu zeichnen, das keine Deutungshoheit beansprucht. Im Schlussbild, in dem der Erzähler Timm auf einer Reise nach Russland auf den Spuren des Bruders einem traditionellen Heldengesang lauscht, ist der Hinweis auf die notwendige Gebrochenheit des ‹ Heldengedenkens › enthalten, das nicht mehr in der Tradition der Heldenverehrung stehen kann, aber auch die menschliche Nähe zum Bruder nicht preisgeben will. Und unübersehbar bleibt die Hoffnung, die Existenz des Tagebuchs sei doch als widerständiges Moment zu deuten. Mit dem Blondschopf des Bruders beginnt die eigene Erinnerung, mit den blonden Haaren im Kamm – fast ein Märchenmotiv – endet die Rekonstruktion. Das Gedenken aus seiner versteinerten Form zu befreien – « Die Zahnpasta in der Tube ist inzwischen versteinert » (155) –, war Timms erzählerischer Impuls, den er überzeugend umgesetzt hat.

3. Exemplarische Lektüre: F.C. Delius' Bildnis der Mutter als junge Frau (2006)

In F. C. Delius' Bildnis der Mutter als junge Frau (der Titel ist eine Anspielung auf Joyces Portrait of the Artist as a Young Man) wird der Spaziergang einer jungen deutschen hochschwangeren Frau an einem einzigen sonnigen Tag im Januar 1943 durch Rom beschrieben, von einem Krankenhaus und Altersheim zu der evangelischen Kirche, in der sie sich ein Konzert anhören will. « Pränatale Erinnerungsliteratur » hat Hannes Krauss das genannt, [25] denn schwanger ist die Mutter mit dem Autor, F. C. Delius.

In der Erzählung wird die Topographie als Weg zwischen zwei « deutschen Inseln » beschrieben: In einem einzigen Satz, der nur durch Kommata voneinander getrennte Textblöcke bildet, werden die Gedanken, Eindrücke und Sehnsüchte der Frau in erlebter Rede wiedergegeben, welche um den Mann kreisen, der sofort nach Antritt der verspäteten Hochzeitsreise zum militärischen Kasernendienst nach Afrika abkommandiert wird, obwohl er eigentlich wegen einer Verwundung dienstuntauglich ist und als Hilfspfarrer in Rom eingesetzt werden sollte. An ihrer Seite sollte er nicht nur den Baedeker ersetzen, sondern ihr Rom und die Welt, urbi et orbi, erklären. Beschrieben werden das kunsthistorisch interessante wie das zeitgenössische Rom, seine vielen Vergangenheiten, Einblicke in die deutsche Nazi-Gemeinde werden gegeben, der italienische Faschismus ins Verhältnis zum deutschen gesetzt, in Rückblicken scheinen die mecklenburgische Heimat und die Familie auf, die gegen die Italienreise war. All diese Reflexionen werden überstrahlt von dem bestimmenden Element im Leben der Frau, einer tiefen protestantischen Frömmigkeit, die sowohl vom Vater rührt, der als Wanderprediger die Seelen missioniert, als auch vom Ehemann geteilt wird. Im Gespräch gleichsam mit sich selbst ist es – da der welterklärende Mann in Tunis sitzt – die Religion, die ihr Stab und Stütze in einer sie bedrängenden und irritierenden fremden Umgebung ist. Ihre Abwehr richtet sich auf katholischen Prunk, dem sie die evangelische Nüchternheit entgegensetzt, auf die verwirrende Überlagerung vielfach geschichteter Vergangenheiten der Stadt, die sie einzig durch den Bezug auf Luther wieder rückbinden kann an die eigene Glaubensgeschichte. Doch sind es nicht nur die religiösen Irritationen, die sie bestürmen, Rom wird auch zum Ort politischer Infragestellung, sei es durch die kritische Kommentierung etwa der Lebensmittelknappheit durch die Italiener, sei es durch Bemerkungen zur Lage von ihrer Zimmergenossin Ilse, die ebenfalls in Rom gestrandet ist und auf die Ausreise nach Australien zu ihrem Verlobten wartet.

« [D]as mecklenburgische Landmädchen, das keine höhere Schulbildung mitbrachte […], das Kind von der Ostseeküste, das sich in Rostock und Doberan und in Eisenach auskannte, aber schon in Berlin völlig überfordert und fehl am Platz war » (23), [26] befindet sich also auf einer Italienreise ganz besonderer Art – Delius stellt die Mutter als Protagonistin in ein für heutige LeserInnen unspektakulär anmutendes, für die Mutter als 21-jähriges Landei aber exotisches Raumgefüge, eine Welt mit verwirrend vielfältiger Vergangenheit, mit « losen Sitten » (33), mit Orangen, Zitronen und Palmen und vor allem mit einer reichen, durch Vermischungen geprägten Kultur, der sie sich hilflos ausgeliefert fühlt, es sei denn, sie findet über den Umweg des Glaubens zu einer Erklärung.

Mit seiner Rollenprosa unternimmt Delius den Versuch, den « gewöhnlichen Deutschen » und ihren Verwicklungen in die nationalsozialistische Vergangenheit nachzuspüren, ohne den anklagenden Gestus der Väter- bzw. in diesem Fall Mütter-Literatur. Stuart Taberner hat herausgearbeitet, dass er damit teilhabe an einem « less accusatory transgenerational discourse » [27], an einer mehr empathischen Perspektive, die über die tragende Rolle der Väter hinweg die durch den « ghosting effect » [28] des Nationalsozialismus verursachte Verlustspur von Genealogie und Tradition literarisch wiederherzustellen versucht – der Begriff ist schwer zu übersetzen, denn Spuk meint Taberner gerade nicht, eher die geisterhaft-traumatische Präsenz des ‹ Dritten Reiches ›. Im Vergleich mit Uwe Timm ist interessant zu bemerken, wie unterschiedlich literarische Versuche ausfallen können, die Familiendynamik insgesamt zu berücksichtigen: Bei Delius ist von sich selbst nur in einer Art Tristram Shandy-Effekt die Rede – Lawrence Sternes Protagonist benötigt bekanntlich sehr viele Seiten, um überhaupt das Licht der Welt zu erblicken. Und dennoch kann Delius zeigen, in welcher Weise Familienhistorie – des Vaters, der Familie insgesamt, des Mannes – den Familienroman im Freudschen Sinne prägen.

Frappant findet Taberner den Kontrast zwischen der begrenzten Weltauffassung der Protagonistin und dem Reichtum an Anspielungen, die in der Erzählung entfaltet werden: Dabei handelt es sich um kulturelle, philosophische und theologische (!) « Marker », die ihr Universum abstecken und von denen er einige herausarbeitet, die sich auf den theologischen Anspielungshorizont beziehen, nämlich auf Luthers Gegenstellung zur Papstgläubigkeit und auf Elisabeth von Thüringen, deren Geschichte sowohl mit der Wartburg als deutschem nationalgeschichtlichen Symbol verbunden ist als auch mit einer paneuropäischen Geschichte. [29] Schon im begrenzten Bildungshorizont einer treugläubigen Protestantin liegen also durchaus Möglichkeiten denkbarer, wenn auch nicht ausformulierter geschichtlicher Alternativen, die mehr geahnt als bewusst gemacht werden. Doch wird dies eben in der Schwebe gelassen, als Denkmöglichkeit im Anspielungsrahmen des Halbwissens verortet und nicht der Mutter als böswillige Ignoranz angelastet.

Was innerhalb der fiktiven Konstruktion ohnehin fragwürdig wäre, strebt Delius mit seinem Porträt erst gar nicht an: Der peripatetische Gang durch die Geschichten Roms, Deutschlands und deren Verbindung mit der eigenen Geschichte wird nicht als lineare Entwicklung verklärt; der Ausgangspunkt ist der einer « braven Tochter » in einem « armen, von Feinden umstellten Deutschland » (57). Zwischen Gehorsam und Rebellion gibt es keine Entscheidungsnotwendigkeit, da ja Luther das Seinige für den rechten Glauben getan hat, dem man nun folgen kann – und der es erlaubt, jede Prüfung als gottgewollte zu bestehen. Zum Dilemma wird diese Position nur dann, wenn sich religiöser Glaube und NS-Gefolgschaft widersprechen – Vater und Mann stehen der Bekennenden Kirche nahe –, « wenn der Führer sich über Gott und Gottes Willen erhebt, dann dürfen wir ihm nicht blind gehorchen.» (67) Die Mutter selbst aber distanziert sich schon dann, wenn wie im Gespräch mit Ilse Gedanken geäußert werden, die im Reich als « Wehrkraftzersetzung » gelten würden: « [D]ie Leute haben keine Lust mehr auf Krieg, hatte Ilse gesagt» (56) Sie will so etwas lieber nicht hören, und den « Wehrwillen » (57) nicht schädigen, denn was sollte werden bei einer Niederlage?

Delius geht es bei seiner Gedankenexploration um die Ausstellung von Widersprüchen, in der neben den rassenkundlichen Überzeugungen, die Juden betreffend, [30] und der unbedingten Loyalität zum Nationalsozialismus blitzartige Vorstellungen von einem Leben ohne Krieg, von der Unerklärlichkeit des Hasses auf andere Völker quer schießen. Doch endet die Erzählung mit dem Konzert, in dem die Mutter sich nach all den Anfechtungen in der Bachschen Musik wieder ihres Glaubens versichert fühlt. Auf der ‹ deutschen Insel ›, wenngleich nur für den Zeitraum eines Konzerts, blühen die Träume vom privaten Glück – « stille Abende ohne Sirenengeheul » (115) – und scheint eine angesichts der Lage rührende Utopie der Versöhnung auf: Sie wünscht sich « weitere und viel lautere Choräle gegen den Tod […], auch die Soldaten […] Christen, Heiden, Juden, Kommunisten, alle müssten Atem holen und einstimmen in ein gewaltiges Lobet den Herrn » (126).

4. Fazit

Neuere Familienromane können Abbruchunternehmungen sein, sie können aber auch Familienmuster zu rekonstruieren suchen, über denen lebensprägende Tabus lagen. Timm und Delius unternehmen solche tastenden Rekonstruktionsversuche, auch und gerade auf die deutliche Gefahr hin, die Familiennarrative zu demontieren, ja, mit der ausdrücklichen Absicht einer Suche nach den subkutanen Mustern des Verschwiegenen, der legendenhaften Ausschmückung und des eigenen Involviertseins. Bei beiden Autoren werden dabei auch Strukturen des traditionellen Familienromans durchbrochen: Bei Timm im ausdrücklichen Bezug auf Schwester und Mutter und deren Stellung im familiären Gefüge, bei Delius in der zentralen Stellung der Mutter, deren geistige Landkarte in einem Verhältnis der prekären Balance mit der Topographie des faschistischen Roms gezeigt wird. An die Stelle von Schuldzuweisungen setzten beide Autoren eine versuchte Nähe – ohne die Illusion, sich ein Urteil anmaßen zu können, aber mit dem Bewusstsein, in der Familiengeschichte einen Splitter der großen Geschichte zu besitzen.



Bibliographie

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ZINTZEN, Christiane, « Das Schweigen der Väter », Literaturen 6, 2005, p. 28-35.



[1] Sigrid LÖFFLER, « Die Familie. Ein Roman », Literaturen 6, 2005, pp. 17-26.

[2] Ibid., p. 18.

[3] Ibid., p. 20.

[4] Ibid., p. 20.

[5] Ibid., p. 22.

[6] Vgl. Aleida ASSMANN, « Geschichte im Familiengedächtnis», Neue Rundschau 118.1, 2007, pp. 157-176, p. 160.

[7] Ibid.

[8] Ibid.

[9] Karl MANNHEIM, Schriften zur Wirtschafts- und Kultursoziologie, hg. von Amalia BARBOZA und Klaus LICHTBLAU, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften, 2009, darin « Das Problem der Generationen », pp. 121-167.

[10] Vgl. die so genannten Hassbücher von Franz Innerhofer: Schöne Tage (1974), Bernward Vesper: Die Reise (1977), Fritz Zorn: Mars (1977) und Cordelia Edvardson: Gebranntes Kind sucht das Feuer (1986). Meist waren es die Väter, denen die schonungslose Abrechnung galt, bei Edvardson ist es die Mutter, Elisabeth Langgässer.

[11] A. ASSMANN, « Geschichte im Familiengedächtnis » (Anm. 6), p. 160.

[12] Martin HIELSCHER, « NS-Geschichte als Familiengeschichte. Am Beispiel meines Bruders von Uwe Timm », in: Friedhelm MARX (Hg.), Erinnern, Vergessen, Erzählen. Beiträge zum Werk Uwe Timms, Göttingen, Wallstein, 2007, pp. 91-102, p. 93.

[13] Ibid., p. 95.

[14] Ibid., p. 96.

[15] M. HIELSCHER, « NS-Geschichte » (Anm. 12), p. 98.

[16] Ibid., p. 93

[17] Ibid., p. 98.

[18] A. ASSMANN, « Geschichte im Familiengedächtnis » (Anm. 6), p. 171.

[19] So Diner nach M. HIELSCHER, « NS-Geschichte » (Anm. 12), p. 96.

[20] A. ASSMANN, « Geschichte im Familiengedächtnis » (Anm. 6), p. 159.

[21] Die angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Ausgabe Uwe TIMM, Am Beispiel meines Bruders, München, dtv, 22005 (EA 2003).

[22] In dieser Hinsicht erinnert Timm an zwei wichtige autobiographische Texte von Peter Weiss, Abschied von den Eltern (1961) und Fluchtpunkt (1962), in denen die Unterdrückung eigener Regungen gegenüber der Prägung durch die Eltern als etwas geschildert wird, das sich nur in pervertierter Form überwinden ließ.

[23] M. HIELSCHER, « NS-Geschichte » (Anm. 12), p. 98.

[24] Vgl. Christa WOLF, « Lesen und Schreiben », in: Christa WOLF, Die Dimension des Autors. Essays und Aufsätze. Reden und Gespräche 1959-1985, Darmstadt, Neuwied, Luchterhand, 1987, pp. 463-504, p. 478.

[25] Hannes KRAUSS, « Aktuelle Tendenzen der deutschen Literatur - Überlegungen am Beispiel ausgewählter Neuerscheinungen », Das Wort. Germanistisches Jahrbuch Russland, 2009, pp. 221-231, p. 225.

[26] Die angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Ausgabe F. C. DELIUS, Bildnis der Mutter als junge Frau. Erzählung, Berlin, Rowohlt 2006.

[27] Stuart TABERNER, « From Luther to Hitler? ‹ Ordinary Germans ›, National Socialism and Germany's Cultural Heritage in F.C. Delius's Bildnis der Mutter als junge Frau, German Life and Letters 61.3, 2008, pp. 388-399, p. 390.

[28] Ibid.

[29] Ibid., p. 395. Auf die Heilige Elisabeth beziehen sich sowohl Katholiken als auch Protestanten; zudem ist sie nicht rein deutsch, sondern Tochter eines ungarischen Königs und Gertruds von Andechs-Meran und steht damit zwischen den Kulturen.

[30] « [U]nd genau das war ja das Problem mit den Juden, die an der ungesunden Vermischung der Rassen schuld waren, wie sie in der Schule und beim BDM in der Rassenkunde gelernt hatte. » (66)

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Michaela Holdenried, « Zum aktuellen Familienroman als erinnender Reskonstruktion », Le Texte étranger   [en ligne], n° 8, mise en ligne janvier 2011.
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